Quelle: Ian McEwan - Was wir wissen können
Der verschwundene Sonettenkranz Toms Spezialgebiet ist die Literatur der Jahre 1990-2030, allerdings ist es da besonders ein Mann, der in fasziniert: Francis Blundy. Den hält er für einen der größten Dichter des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Allerdings ist sein wohl wichtigstes Werk verschwunden, der „Sonettenkranz für Vivien“, den er seiner Frau gewidmet hat. Nur an einem Abend unter Freunden im Jahr 2014 war der Gedichtzyklus vorgetragen und danach zum Mythos verklärt worden. Aus Briefen, Tagebüchern und über 200.000 SMS versucht Tom, diesen legendären Abend zu rekonstruieren und wäre nur zu gern dabei gewesen. Der Mann der Zukunft ist von einer Sehnsucht erfüllt, die uns Gegenwartsmenschen zu denken geben sollte. Die Blundys und ihre Gäste lebten in einer Welt, die uns wie das Paradies vorkommt. Es gab einen größeren Reichtum an Blumen, Bäumen, Insekten, Vögeln und Säugetieren, wenn auch im Einzelnen immer weniger. Der Wein, den Blundys Gäste tranken, war von besserer Qualität als unser Wein, ihre Nahrung gewiss leckerer und abwechslungsreicher, zudem kam sie aus der ganzen Welt. Die Luft, die sie atmeten, war rein und weniger radioaktiv.Quelle: Ian McEwan - Was wir wissen können
Was geschah an jenem Abend im Jahr 2014? Den Gegensatz zwischen unserer Gegenwart und der Gegenwart seines Protagonisten Tom malt Ian McEwan mit großen, dringlichen Pinselstrichen aus. Da wäre an mancher Stelle weniger fast mehr gewesen. Umso interessanter wird es, wenn der Schriftsteller im zweiten Teil seines Romans Francis Blundys Frau Vivien zu Wort kommen lässt. Sie erzählt davon, was an dem legendären Abend im Jahr 2014 wirklich passiert ist. Hier eröffnet sich die weit subtilere und nachdenklichere Seite der Geschichte. Denn die handelt tatsächlich davon, was wir wissen können. Tom mag alle niedergeschriebenen Quellen studiert haben, aber was, wenn die Realität eine ganze andere war? So heißt es in Viviens Aufzeichnungen: Fast unmerklich wurden meine Tagebucheinträge zum Bericht meines besseren Selbst. Ich hätte es abgestritten, aber mit der Zeit hörten die Einträge auf, privat zu sein. Ich hatte einen Leser im Sinn.Quelle: Ian McEwan - Was wir wissen können
Was wir wissen können“ ist eine dystopische Erzählung ganz auf der Höhe unserer Zeit. Sie umfasst eine Ode an die Kraft der Literatur, eine Betrachtung über die Grenzen der Erkenntnis und nicht zuletzt auch eine tragische Liebesgeschichte und einen Krimi. Aber darüber an dieser Stelle keine Details. Ian McEwan ist jedenfalls einmal mehr ein großartiger, komplexer und überraschender Roman gelungen. Man kann nur hoffen, dass er sich mit seiner düsteren Zukunftsvision nicht als Hellseher erweist.