Quelle: Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch
Tischerücken. Kaffee holen. Hinsetzen. Und schon ist man mitten in Nirit Sommerfelds Familiengeschichte. An den Wänden hängen Fotos. Fotos ihrer Familie mütterlicherseits, die aus Marokko stammt, Fotos von ihrem Großvater Julius, der in Chemnitz ein Tuchwarengeschäft geführt hat. Neben dem Klavier steht er in Lebensgröße, als Aufsteller. Julius Schocken als Papp-Aufsteller Da steht er am Ostseestrand vor einem Strandkorb und hat diese fantastischen Lederschuhe in weiß und schwarz an und einen Spazierstock...Quelle: Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch
Und er schaut einen an, egal, wo man steht. Mona-Lisa-Blick nennt Nirit Sommerfeld das. Obwohl er seit fast einem Jahr hier steht, ist es immer wieder so berührend für mich jetzt, also auch wieder, wenn ich das erzähle, weil er einfach wieder hergekommen ist nach Chemnitz. Ja, ich hab ihn wieder hergebracht.Quelle: Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch
Wenn Nirit Sommerfeld das erzählt, stehen ihr Tränen in den Augen. Sie ist 64 Jahre alt und somit bereits älter als ihr Großvater damals. Sie wurde in Eilat am Roten Meer geboren, wuchs später aber in Deutschland auf. Ihr Großvater Julius war Deutscher und wurde 1939 deportiert. Im März 1940 wurde er im KZ Sachsenhausen ermordet. Die Familiengeschichte im Roman „Beduinenmilch In ihrem Roman „Beduinenmilch“ erzählt Nirit Sommerfeld diese Familiengeschichte. Hauptfigur ist die knapp 18-jährige Talia. In der „Beduinenmilch“ ist der Großvater von Talia, da ist das Vorbild mein Vater. Also der Saba Sigi, der 1919 geboren ist in Chemnitz, ist eigentlich mein Vater.Quelle: Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch
Saba Sigis Biographie ist stark angelehnt an die von Nirit Sommerfelds Vater Rolf, den Sohn von Tuchhändler Julius Sommerfeld. Der brachte seinen Sohn 1937 nach Palästina, um ihn vor den Nazis zu schützen – wie auch der fiktive Saba Sigi in dieser Zeit nach Palästina kam. Vor diesem Hintergrund erzählt der Roman die Geschichte von Talia. Die hat gerade in Berlin ihr Abitur gemacht. Es ist das Jahr 2014. Über den Sommer fliegt sie wie immer zu ihrer Familie nach Israel. Aber diesmal will sie bleiben. Weil sie ja mit diesem Plan kommt, für dieses Land sich einzusetzen. Und der einzige Weg, den sie sieht, ist also zum Militär zu gehen. Was macht man denn sonst mit 18 als jüdisches Mädchen? Natürlich das. Das ist die große Verheißung.Quelle: Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch
Talia will sich einziehen lassen. So wie seinerzeit, Ende der 70er Jahre auch Nirit Sommerfeld – die hat damals allerdings auf ihre Eltern gehört und ist in Deutschland geblieben. Erst 2007 ging sie selbst nach Israel – mit einer tiefen Sehnsucht nach diesem Endlich-zu-Hause-Sein. Und mit einem Narrativ im Kopf, mit dem auch Talia im Buch nach Israel kommt: Ich war so, ja, die Besatzung ist was Schlimmes, aber ich meine, die Palästinenser lassen uns halt auch keine Ruhe. Was will man machen? Und ich meine, ganz ehrlich, wir sind halt auch die Demokraten und das heißt im Grunde genommen, und das habe ich erst Jahre später wirklich tief begriffen, im Grunde genommen war ich aus so einer überhöhten, fast kolonialen Position heraus, habe ich so diese Haltung gehabt, naja, also ihr Araber müsstet euch halt auch ein bisschen benehmen, ne?Quelle: Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch
Mit diesen Bildern im Kopf bewegt sich Talia im Buch durch Israel, so wie auch Nirit Sommerfeld sich damals, 2007, durch Israel bewegt hat. Und viele der Erfahrungen, die Nirit Sommerfeld dort machte, lässt sie nun ihre Figur Talia machen. So, und dann bin ich da hingezogen und ich bin selbstverständlich in die West Bank gereist und selbstverständlich habe ich arabische Dörfer besucht. Und dann habe ich gedacht, warum fühle ich mich eigentlich in den arabischen Dörfern wohler, also eigentlich so wie früher bei meiner Oma und Uroma, die ja auch arabisch gesprochen haben untereinander.Quelle: Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch
Frieden statt Krieg – ein Umdenken In Nirit Sommerfeld hat damals ein Umdenken eingesetzt. Sie konnte und kann die kriegerischen Auseinandersetzungen, die Israel führt, seitdem nicht mehr gutheißen, setzt sich stattdessen radikal für Frieden zwischen Israelis und Palästinensern ein. Es ist dieses Umdenken, das sie in ihrem Roman nachzeichnet. Und so begegnet im Roman auch ihre Figur Talia illegal in Israel arbeitenden Palästinensern, deren Menschlichkeit sie erkennen lernt. Sie trifft auf Aktivisten, die vermitteln wollen zwischen Israelis und Palästinensern. Und auf Menschen, die offen über ihre schockierenden Erfahrungen beim israelischen Militär sprechen und die sich damit angreifbar machen. Neben Talias Geschichte gibt es Tagebucheinträge von Talias Großvater Saba Sigi, die von der Zeit der Gründung des Staates Israel erzählen – und davon, dass auch diese Gründung mit massiver Gewalt verbunden war. So verflechten sich die Zeiten, und als Leserin bekommt man ein Gespür dafür, wie sich Gewalt in diesem Land fortgesetzt hat, wie heutige Konflikte mit den früheren eng verknüpft sind. Und man kann die Sehnsucht von Nirit Sommerfelds Figuren verstehen – eine Sehnsucht nach Frieden und Versöhnung. Der Traum von Rückkehr Nirit Sommerfeld hat Israel 2009 wieder verlassen. Als ich weggegangen bin, habe ich gesagt, mein großer Traum ist es zurückzukehren. Eines Tages, wenn ich in Israel, Palästina oder wie auch immer dieser Staat dann heißt, leben kann, wo alle Menschen mit denselben Rechten ausgestattet sind, mit denen ich ausgestattet bin, dann werde ich zurückkehren.Quelle: Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch
Nirit Sommerfeld glaubt nicht, dass sie das noch erleben wird. Vermutlich nicht einmal ihre Enkelkinder, meint sie. Während wir tief in die Debatten eingetaucht sind, hat sich das Café Julius längst mit Mittagsgästen gefüllt. Zweimal Blätterteigtaschen gemischt, einmal Blätterteigtasche Spinat… In ihrem Café kommen ganz verschiedene Menschen zusammen. Museumsmitarbeiter, Familien, ältere Damen und Herren, die Nirit Sommerfeld ins Herz geschlossen haben. Immer wieder wird sie angesprochen. So auch eine ältere Frau: „Sie sind eine ganz toughe Frau, wie Sie sich da durchsetzen...“ Ein bunt gemischtes Küchenteam Und hinter den Kulissen? Da ist die Kurdin Gülistan von Anfang an dabei – die eigentliche Chefin, wie Nirit Sommerfeld erzählt. Dann ist da Kurt, der seine Doktorarbeit in Mathematik schreibt – ein heimlicher Kommunist. Und Rana, Palästinenserin aus Syrien. Hast du nicht die Messer bekommen? Das ist deins, pass auf, ich bring dir mal die Messer...Quelle: Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch
Seit einem Jahr gibt es nun das Café Julius im Schocken. Seit einem Jahr schaut Nirit Sommerfeld hier jeden Tag in die Augen ihres Großvaters. Sie ist aus München hergezogen. Ist sie jetzt angekommen, hat sie ihren Platz gefunden? Ich bin da zu Hause, wo ich gerade bin, das habe ich mir jetzt so zurechtgelegt. Weil ich bin da zu Hause, wo man mich annimmt und wo ich irgendwie gerade einen Platz habe.Quelle: Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch
Jetzt gerade ist das eben Chemnitz. Für immer bleiben wird sie wohl nicht, meint sie. Aber jetzt ist es ihr Ort, das Café Julius im einstigen Kaufhaus Schocken.