Vor 70 Jahren erschien der Roman "Lolita". Die gleichnamige Kunstfigur wurde zum feststehenden Begriff für verführerische, frühreife Mädchen. Vor dem Hintergrund der Metoo-Debatte und weiblicher Selbstermächtigung ist die patriarchal geprägte, sexuell aufgeladene Kindfrau-Fantasie fragwürdig geworden. Von Susanne Brandl
Credits
Autorin dieser Folge: Susanne Brandl
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Schuler, Caroline Ebner
Technik: Frank Brunier
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Lea Ruckpaul, Schauspielerin und Autorin,
Susanne Strätling, Literaturwissenschaftlerin und Slawistin,
Elisabeth Bronfen, Literaturwissenschaftlerin
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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Linktipps:
lesenswert Magazin von SWR Kultur:
Vladimir Nabokov - Lolita HIER
Literatur:
Lea Ruckpaul: ByeBye Lolita, Voland & Quist 2024
Vanessa Springora: Die Einwilligung, Diana Verlag, Penguin Random House 2022, Ersterscheinung 2020.
Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche: Tod, Weiblichkeit und Ästhetik.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
TON A
„Eine Lolita? Hört sich wie eine Pflanze an! / Hab ich keine Ahnung! / Für mich ein junges Mädel!“
SPRECHERIN
Ein junges Mädchen, so weit stimmt’s.
TON B:
„Für mich ist eine Lolita vielleicht so elf, zwölf.“
SPRECHERIN
Ja, also noch ein Kind.
TON C
„verführerisch würde ich sagen.“
SPRECHERIN
Verführerisch? Ein Kind?
TON D
„Eine Kindfrau!/ Ein junges Mädchen, das mit einem unpassend alten Mann ein Verhältnis hat/ Die kritischerweise einen gewissen Sexappeal hat.“
SPRECHERIN
„Kritischerweise“! Das ist der Punkt!
TON E
„Das Buch hab‘ ich gelesen. Und da wird sie entführt von ihrem Stiefvater. Und der vergewaltigt sie und vergeht sich an ihr.“
SPRECHERIN:
Exakt. Das ist ihr Schicksal.
Musik: The last Martini 0‘35
Lolita ist eine Kunstfigur aus dem gleichnamigen Roman „Lolita“ von Wladimir Nabokov, erschienen 1955. Der Erzähler: Humbert Humbert, ein pädophiler Mittvierziger, der mit seiner Stieftochter im Auto quer durch die USA fährt und sie zwei Jahre lang schwer sexuell missbraucht. Er beschreibt, wie sie ihn betört, verführt, was sie mit ihm anstellt, wie sehr er leidet. Paradox. Pervers. Bis heute hält sich die Überzeugung: eine Lolita, das ist ein junges verführerisches Mädchen.
SPRECHERIN:
Lolita ist zum feststehenden Begriff geworden. Ihr Typus geistert seit dem Erscheinen des Romans durch die Popkultur.
Musik: Moi…Lolita 0’24
Ton 1 Lea Ruckpaul:
„Ich finde ganz deutlich, dass dieser Begriff gar keine Person bezeichnet. Sondern nur die Projektion ist. Also man hat dieses Bild, also einen Menschen, und man hat den Blick auf dieses Mädchen, und eigentlich bezeichnet das Wort Lolita nur den Blick auf.“
SPRECHERIN:
Lea Ruckpaul, Schauspielerin und Autorin, stört sich daran, dass die Figur Lolita in Nabokovs Roman keine Stimme hat. Dass sie eine männliche Phantasie eines Erzählers ist, der noch dazu pädophil ist. Und so schrieb Ruckpaul den Gegenentwurf. In ihrem Roman „Bye bye Lolita“ erzählt sie die Handlung aus der Perspektive des Mädchens, das die Beziehung zwischen ihr und ihrem Stiefvater Humbert Humbert als jahrelangen sexuellen Missbrauch erlebt, überlebt und als erwachsene Frau aufarbeitet. Ihr Buch erschien 2024.Also knapp 70 Jahre nachdem Nabokovs Lolita das erste Mal veröffentlicht wurde, bei einem französischen Verlag, der sich auf Pornografie spezialisiert hatte. Deswegen sah sich Nabokov zunächst mit dem Vorwurf konfrontiert, sein Buch sei pornografisch. Der augenfällige sexuelle Missbrauch und die Pädophilie der Hauptfigur stießen der männlich dominierten Rezeption damals gar nicht groß auf. Susanne Strätling, Literaturwissenschaftlerin vom Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin:
O-TON 2 STRÄTLING
„Das Faktum, dass der Roman den Missbrauch an einer Minderjährigen beschreibt, ist durchaus schon bemerkt worden, von der frühen Rezeption. Zum Teil fallen Begriffe wie Obszönität, zum Teil fallen Begriffe wie diabolisch, es fallen auch Begriffe wie pervers. Das ist aber geglättet, aufgelöst worden, dahingehend, dass man den Roman als einen Liebesroman beschrieben hat.“
Musik: Quilty 0‘27
SPRECHERIN:
Das komplizierte, einseitige Abhängigkeitsverhältnis zwischen Lolita und ihrem Schänder: eine Liebesgeschichte? Aus heutiger Sicht völlig abwegig. Aber als das Buch 1955 erscheint, gelten noch andere Regeln. Die frühe Rezeption beschreibt Lolita sogar als ganz besonderen Liebesroman…
O-TON 3 STRÄTLING:
„…da nach Auffassung früher Rezensenten jeder gute Liebesroman im Grunde genommen eine Liebe beschreibt, die skandalös ist, die in irgendeiner Art und Weise Tabus bricht, eine unmögliche Liebe letztlich beschreibt.
Musik: Sexueller Notstand 0‘16
SPRECHERIN:
In den 70er und 80er Jahren beginnt die feministische Literaturwissenschaft weibliche Autorinnen zu entdecken, weibliche Figuren und deren Rezeption zu untersuchen, den männlichen Blick zu analysieren. An Lolita werden verschiedene Positionen ausgehandelt. Einige plädieren sogar dafür, das Buch aufgrund der verletzenden Darstellung zu verbieten. Eine Wissenschaftlerin, die den Missbrauch benennt und Lolita in den Fokus rückt, ist die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Linda Kauffman, sagt Susanne Strätling:
O-TON 4 STRÄTLING:
„… Kaufmanns These ist zunächst mal die gewesen, dass Lolita kein Liebesroman sei, sondern ein Inzestroman und dass der Roman im Grunde genommen verschiedenste Strategien entwickelt, um aber genau diesen inzestuösen Kern zu verhüllen, diese moralischen Fragen im Grunde genommen durch sowas wie ästhetischen Genuss zu verbergen.“
SPRECHERIN:
In poetischer Sprache huldigt der Erzähler Humbert Humbert Lolitas jugendlichem Körper. Er beschreibt den Missbrauch niemals als übergriffig, sondern immer als erquickliche Lust, die ihn erleichtert.
Musik: Jeanny 0‘22
Der ästhetische Genuss, Frauenkörper leiden und sterben zu lassen, sei in der westlichen Literatur- und Kunstgeschichte gewissermaßen programmatisch, so die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen. Ihre These: Das Motiv der schönen, toten Frau zieht sich seit jeher durch die westliche Kunst- und Erzählkultur. Bronfen zählt auch Lolita dazu, die bei Nabokov nach der Geburt eines toten Mädchens im Kindbett stirbt.
O-TON 5 BRONFEN:
„Ich denk, das ist der Reiz an der Darstellung des schönen weiblichen Todes, dass da auf mehrfache Weise das, was einen beängstigt und bedrückt, nämlich die Vorstellung der eigenen Sterblichkeit, ausgelagert werden kann auf einen anderen, auf einen weiblichen Körper. Und wenn dieser Körper dann auch noch dazu ein schöner weiblicher Körper ist, kommt noch die ganze Idee des Fragilen mit ins Spiel und das passt eben sehr gut zur Lolita, das Gefühl, sie hätte ja noch ein langes Leben haben können und das wurde aber abrupt unterbrochen.
SPRECHERIN
Bronfen stellt sich entschieden gegen die Rufe nach Zensur. Sie liest Lolita als ironischen Text von einem unzuverlässigen Erzähler, als eine Beichte von einem nicht ernst zu nehmenden, trauernden Liebhaber wie es ihn in der Literaturgeschichte häufig gibt.
O-TON 6 BRONFEN:
„Gibt es die Lolita, so wie Humbert Humbert sie erzählt, überhaupt oder ist das eine Spiegelung seiner Phantasien und wenn es eine Spiegelung seiner Phantasien ist, dann ist es ein Kompositum verschiedenster weiblicher Figuren aus der Literatur seit der Antike. Man muss das auch ernst nehmen, also nicht nur als ein Ausdruck einer kulturellen Misogynie, sondern wirklich auch als ein Ausdruck einer kulturellen Faszination.“
SPRECHERIN:
Eine kulturelle Faszination, der sich junge Leserinnen und Autorinnen heute engagiert entgegenstellen. Es braucht Gegenentwürfe, findet die 38-jährige Autorin und Schauspielerin Lea Ruckpaul, die in ihrem jüngst publizierten Roman „Bye bye Lolita“ das missbrauchte Mädchen selbst erzählen lässt. Um ihre Stimme zu finden, suchte die Autorin erstmal beim Original.
O-TON 7 LEA RUCKPAUL:
„In den Momenten, wo es wirklich körperlich gewalttätig wird, da fängt bei Nabokov die Poesie an. Also es wird irgendwie über die schöne Natur und den schönen Körper, der diese und diese Farbe hat, gesprochen, und das war, was für mich, was bei mir so tief eingeschlagen hat, weil ich glaube, dass das eine kulturelle Praxis ist, die wir oft machen, dass man Gewalt ästhetisiert. Und ich habe versucht, das genau andersrum zu machen, dass man für Gewalt sehr, sehr deutliche, sehr hässliche, sehr schmerzhafte Worte findet“.
ZITATORIN
„Er legte mich neben sich und ich weinte den ganzen Ärmel seines Schlafanzuges nass. Obwohl – eigentlich weinte ich nicht richtig, es lief mehr so aus mir heraus. Auch die Rotze, aber das störte ihn nicht. Als es nachließ, steckte er zwei Finger in mich und bewegte sie ein bisschen. Es fühlte sich an, als würde er Wundränder aufreißen. (…) Er gab das Rumfummeln bald auf und wir machten es erneut. Es war schrecklich.“
SPRECHERIN:
Lea Ruckpaul ist nicht die erste, die versucht, die Perspektive umzukehren. 2013 macht sich die schwedische Autorin Sara Stridsberg daran, Lolita vom Objekt zum Subjekt zu machen. In ihrem Roman Darling River baut sie um Lolitas Geschichte ein Gerüst von Phantasien und Assoziationen auf, wobei diffus bleibt, wer wen überwältigt, verführt oder bändigt. In vier sogenannten Doloresvariationen schildert sie Lolita als Tochter, als sterbende Gebärende, als dressierten Affen und als Mutter. Alles in flüchtigen, düsteren Skizzen. Lolita bleibt passiv, melancholisch, fatalistisch. Der Leser folgt ihrem Verfall, ihrer Todessehnsucht. Stridsbergs Lolita will sterben wie angerfahrene Tiere auf der Straße.
Musik: Quilty 0‘16
ZITATORIN
„Der kleine Vogel, der an der Scheibe zerschmettert wurde, das Rehkitz, das zwischen den Hinterreifen hervorgeschleudert wurde, während ich auf dem Rücksitz kniete und auf die Straße blickte, die hinter uns verschwand. Die kleinen, verwilderten Hunde, die mitten auf dem Asphalt liegen blieben, noch immer am Leben und in Erwartung des nächsten Autos, und des nächsten und nächsten.“
SPRECHERIN
Darling River fand Beachtung, doch die Kritik wußte nicht viel damit anzufangen. Die Autorin Sara Stridsberg war Jury-Mitglied der Schwedischen Akademie, die den Literaturnobelpreis vergibt. 2018 trat sie aus dem Komitee aus, bestürzt über den Metoo-Skandal, der die Institution erschütterte. Eine Zeitenwende in der Literaturwelt. Der weltweite Einzug einer neuen Bewusstseinskultur, die auch das Leseverhalten prägt.
O-TON 8 Strätling:
„Wir lesen ja nie isoliert. Wir lesen immer mit bestimmten Kontexten, mit einem bestimmten Vorwissen. Wir lesen auch immer abhängig von Diskursen, und ein solcher Diskurs ist zum Beispiel ja auch der Diskurs über die Metoo-Debatte. Ja, also ist dieser Diskurs einer, der jetzt dazu führt, auch diesen Lolita-Roman neu zu lesen und dann auch vielleicht erneut die Frage zu stellen: ist das ein Roman, der die Figur Lolita zum Opfer macht? Oder ist das ein Roman, der in irgendeiner Weise das ermöglicht, was man heutzutage vielleicht als Agency bezeichnen würde?“
Musik: Bouquet de nerfs 0‘22
SPRECHERIN
Lolita, ein Roman, der einer missbrauchten Figur Handlungsmacht zurückerstattet? Auf den ersten Blick ein merkwürdiger Gedanke, auf den zweiten Blick ein interessanter Ansatz, vor allem, wenn man den zweiten Blick in ein Buch wirft, das 2020 auch als Folge von Metoo auf den Markt kam. Die französische Autorin Vanessa Springora machte darin öffentlich, dass sie als 14-Jährige mit dem über 30 Jahre älteren, vielfach ausgezeichneten Autor Gabriel Matzneff ihr erstes sexuelles Verhältnis hatte. Ein Abhängigkeitsverhältnis, das sie schwer traumatisiert hat. In ihrem Buch „Die Einwilligung“ zitiert Springora auch Lolita von Nabokov, und interpretiert den Roman als eine Art Entschädigung für die Titelfigur. Sie stellt ihren eigenen sexuellen Ausbeuter dem Täter Humbert Humbert gegenüber. Und stellt fest: Lolita wird zwar missbraucht, ihr Stiefvater aber räumt im Gegensatz zur Gabriel Matzneff wenigstens seine Schuld ein.
ZITATORIN
„Was für ein Glück für Lolita, dass sie wenigstens diese Wiedergutmachung erhielt, das uneingeschränkte Schuldeingeständnis ihres Stiefvaters aus dem Mund des Täters selbst, der ihr ihre Jugend geraubt hatte.“
SPRECHERIN:
Was den Roman angeht, würde dieser heutzutage Probleme mit der Zensur bekommen, so die Verlegerin Vanessa Springora. Dabei versteht sie die Vorbehalte gegenüber Nabokovs Buch nicht, das sie selbst nach ihrer Missbrauchserfahrung mehrfach gelesen hat.
ZITATORIN:
„Mir scheint , dass Lolita alles andere als eine Verklärung der Pädophilie ist. Es ist im Gegenteil die eindrücklichste und wirkungsvollste Verurteilung, die sich in diesem Thema finden lässt. Ich habe im Übrigen immer daran gezweifelt, dass Nabokov pädophil gewesen sein könnte. (…) Mag sein, dass Nabokov gewisse Neigungen niederringen musste, ich habe keine Ahnung. Auf alle Fälle versucht der Autor Nabokov (…) nie, Humbert Humbert als Wohltäter hinzustellen oder gar als anständigen Mann.“
SPRECHERIN:
Es überrascht, dass Springora, die selbst jahrelang das Schicksal mit Lolita teilte, in ihrer Schrift „Die Einwilligung“ Nabokovs Roman gegenüber Milde walten lässt.
O-TON 9 Strätling:
Ich finde grundsätzlich interessant, dass der Roman Lolita gerade im französischen Kontext bisweilen als Empowerment-Text gelesen wurde, als eine Verurteilung. Und das ist eine Lektüre, die stark auch alleine steht.
Musik: Le vent nous portera 0‘28
SPRECHERIN
Springoras Text stand wochenlang auf Platz 1 der französischen Bestsellerliste und führte zu einer literarischen und gesellschaftlichen Debatte weit über Frankreich hinaus. Springora analysiert auch die französische Literaturszene, die jahrzehntelang ihrem Peiniger Mazneff huldigte, der Sex mit Kindern unter dem Deckmantel literarischer Kunst betrieb und beschrieb.
ZITATORIN
„Tatsächlich verteidigte eine große Zahl von linken Journalisten und Intellektuellen gegen Ende der Siebziger Jahre, öffentlich Erwachsene, die wegen verbotener Beziehungen zu Minderjährigen angeklagt wurden. 1977 publizierte Le Monde einen offenen Brief, der sich für die Legalisierung von sexuellen Beziehungen zwischen Minderjährigen und Erwachsenen aussprach. (…) und wurde von prominenten und renommierten Intellektuellen, Psychoanalytikern und Philosophen, von Schriftstellern, überwiegend linken, unterschrieben. Darunter unter anderem Roland Barthes, Gilles Deleuze (…) Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre.“
SPRECHERIN
Besonders bemerkenswert ist, dass die Feministin Simone de Beauvoir diesen Brief unterzeichnet hat, da sie zu den wenigen Frauen zählte, die sich schon kurz nach Erscheinen des Romans mit dem „Lolita-Syndrom“, wie sie es nannte, auseinandergesetzt haben. Allerdings nicht sonderlich kritisch. Im Gegenteil. Simone de Beauvoir betrachtete das kindliche, unberechenbare, neugierige, launige Wesen Lolitas modellhaft für die neue Frau. In ihrem Text „Brigitte Bardot und das Lolita-Syndrom“ bezieht sie sich vor allem auf Filme der 50er Jahre, in denen Brigitte Bardot ungestüme Kindfrauen spielt.
Musik: Mambo Lolita 0‘17
Sie erwähnt auch Nabokovs Lolita-Roman als Syndrom einer Zeit, in der sich die Geschlechterrollen wandeln.
ZITATORIN
„Die erwachsene Frau ist inzwischen in derselben Welt wie Männer unterwegs, aber die Kindfrau bewegt sich in einem Universum, das der Mann nicht betreten kann. Der Altersunterschied zwischen beiden schafft wieder die Distanz, die nötig ist, um zu begehren. (…) Brigitte Bardot ist das ideale Exemplar dieser uneindeutig handelnden kleinen Nymphen. (…) Sie ist ohne Erinnerung, ohne Vergangenheit und dank dieses Unwissens behält sie die perfekte Unschuld, die zu einer mythischen Kindheit gehört. (…) Als Instinktwesen ist sie temperamentvoll, wankelmütig und unberechenbar. (…) Sie erscheint als Naturgewalt, gefährlich, solange sie nicht gezähmt wird. (…) Sie tut, worauf sie Lust hat und das ist, was beunruhigt.“
SPRECHERIN
Hier schildet de Beauvoir eine Lolita, wie auch Humbert Humbert sie beschreibt. Auch er hat mit ihrem launenhaften Wesen zu kämpfen, versucht sie mit Freizeitvergnügungen in Zaum zu halten, ihre Stimmung mit Versprechungen so zu drehen, dass sie gefügig wird. Und sie spielt gezwungenermaßen mit, schlägt für sich Freiheiten heraus, bevor sie sich sexuell unterwirft. Gerade dieses Kalkül von Lolita betrachtet Simone de Beauvoir als feministische Ermächtigungsstrategie.
ZITATORIN
„Der Mann ist ein Objekt für sie, genauso wie sie es für ihn ist. Und das ist genau das, was männlichen Stolz verletzt. Schmuck, Kosmetika und High Heels (…) zu verschmähen, bedeutet, sich zu weigern, ein gefälliges, ferngesteuertes Ideal zu repräsentieren. (…) Sie fordert bestimmte, althergebrachte Tabus heraus, insbesondere die, die Frauen keine sexuelle Autonomie zugestehen. (…) Kinder fragen immer warum, warum nicht.“
SPRECHERIN:
Simone de Beauvoir überträgt die Konstellation von Humbert Humbert und Lolita auf gesellschaftliche Verhältnisse,, wobei sie betont, dass die kindliche Frau den Mann in der Hand hat. Dasselbe unternimmt Lea Ruckpaul, allerdings in umgekehrter Weise. Sie beschreibt Lolita als Repräsentantin für all die Frauen, die einem System unterworfen sind, in dem sie gefallen und gefügig sein sollen, Und dabei lächeln und still sein sollen. Sie schreibt 2024 in ihrem Roman:
ZITATORIN
„‘Lolita‘ ist durch alle Zeiten gegangen. ‚Lolita‘, das sind viele. Wir sind es und wir werden es auch in Zukunft sein, wenn wir so weitermachen wie bisher. (…)“.
SPRECHERIN:
Bei Lea Ruckpaul spricht eine erwachsen gewordene Lolita zu ihrer Mutter, die sie dazu erzogen hat, sich nicht zu widersetzen, sondern gefällig, hübsch und brav zu sein:
ZITATORIN
„Es nützt nichts, Mama (…) der Erniedrigung von außen mit Selbstkasteiung zu begegnen. Auch wenn Du ‚Perfektion‘ erreicht hättest, Mama, hätten die Tyrannei und der Selbsthass nicht aufgehört, denn sie sind ein Mechanismus zur gesellschaftlichen Regulierung und Kontrolle von Frauen. (…) Du hast mir beigebracht, in dieser Welt zu überleben, nicht aber, sie zu verändern, Es nützt nichts, um die begrenzte Teilhabe an einem System zu wetteifern, das einfach scheiße ist. Ich sage dir, was nützt: Raus aus dem Dreck!“
O-TON 10 Lea Ruckpaul
Es ist natürlich Systemkritik beziehungsweise der Versuch, dieses System ein bisschen emotional begreifbar zu machen, dass man sich darüber austauschen kann. Und dass diese Systeme auf alle Frauen in meiner Umgebung angewendet werden, das war für mich eine totale Initialzündung, mich darin bestärkt zu fühlen und eben zu denken, warte mal, ich kann ja gesellschaftlich was ändern.
Musik: Smart workaround 0‘20
SPRECHERIN:
Der Frauenkörper heute ist immer noch Spielfeld von Gewalt, was durch die mediale Bilderflut noch bestärkt wird, so die Autorin Ruckpaul. Auf Social Media würden Frauenkörper gedrillt, operiert, definiert oder durch Filter passend gemacht.
O-TON 11 Lea Ruckpaul
„Aber das sehe ich ja nicht nur bei Menschen, die als Kind Missbrauch erlebt haben, sondern das sehe ich die ganze Zeit um mich herum. Es geht die ganze Zeit darum, dass Frauenkörper gezähmt werden, dass sie in ein bestimmtes Muster hineingequetscht werden. Ich geh auf Instagram. Ich seh mir Werbung an: Die ganze Zeit beschäftigen sich Frauen damit, wie sie aussehen und eben diese Art und Weise, wie man für seinen Körper beschämt wird, hat System.“
SPRECHERIN:
Ruckpaul liest die Figur Lolita also als Metapher, als Stellvertreterin für viele Frauen. Zugleich erzählt Ruckpaul konsequent an Nabokovs Roman entlang die Erlebnisse der Lolita aus deren Perspektive. Was Humbert Humbert über Lolita schreibt, erzählt Lolita völlig anders. Was Humbert Humbert bei Nabokov gar nicht wahrnimmt, also nicht erwähnt, wird in Lea Ruckpauls Roman explizit.
ZITATORIN
„Niemals zuvor im Leben hatte ich solche Schmerzen gehabt. (…) als ich spürte wie sich eine Flüssigkeit in meiner Vagina bewegte und auf den Fußboden herunterzustürzen drohte, floh ich ins Badezimmer. Ich setzte mich auf die Toilette und beobachtete, wie Blut das Wasser rot färbte. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich aus der Vagina blutete, meine Menstruation hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekommen. Das Bluten hörte nicht auf. Mein Unterleib glühte.“
SPRECHERIN:
Hier bleibt nicht mehr viel zu interpretieren. Die Botschaft ist klar. Lolita leidet, sie ist zunächst einmal unmissverständlich Missbrauchsopfer. Ruckpaul ist unbegreiflich, wie das bei der Rezeption von Nabokovs Lolita jahrzehntelang ausgeklammert, übersehen oder umgedreht werden konnte.
O-Ton 12 Lea Ruckpaul:
„Mein Problem ist sozusagen nicht der Roman, weil den finde ich extrem folgerichtig in dem, was er macht. Mein Problem ist die Rezeption und dass es halt ein viel viel leichterer Weg ist, gesellschaftlich zu sagen, ja sie ist diese Verführerin und er ist dieser arme Typ. Ich konnte ja mit Nabokov nie sprechen, aber wenn ich es könnte, dann würde ich ihn total gerne fragen, was er dazu gefühlt und gedacht hat - dass er eigentlich damit was anderes wollte, aber das eben auf eine Gesellschaft getroffen ist, die noch gar nicht bereit dazu war, die andere Perspektive einzunehmen oder der überhaupt nicht bewusst war, dass es sozusagen eine männlich dominierte Perspektive in der Gesellschaft überhaupt gibt.“
Musik: Leave of absence 0‘17
SPRECHERIN:
Die Slawistin und Literaturwissenschaftlerin Susanne Strätling weist daraufhin, dass Nabokovs Text damals wie heute sehr herausfordert, da Leserinnen und Leser eine Ambivalenz zwischen Ethik und Ästhetik aushalten müssen.
O-Ton 13 Strätling;
„Diese Doppelrolle, dass man ein Buch liest über eine Handlung, die gewissermaßen im realen Leben verurteilungswürdig ist, aber so etwas wie ästhetische Lust produziert, dieser Zwiespalt, der ist immer wieder beobachtet worden, und es ist dann beschrieben worden als Ironie. Es ist oft beschrieben worden als Parodie. .“
SPRECHERIN:
Rezipienten heute müssten entscheiden, wie weit sie sich auf den Text einlassen, ob sie auf diese Komplizenschaft mit dem pädophilen Erzähler eingehen wollen. Und falls ja, trotzdem den Versuch unternehmen, Lolitas Stimme nachzuspüren.
O-TON 14 Strätling:
„Kein Text sagt alles, jeder Text hat seine Lehrstellen und in der Regel sind es diese Lehrstellen, die wir im Lesen imaginativ ausbuchstabieren müssen. Das ist das, wo wir als Leser:innen aktiv werden, wo etwas fehlt, wo etwas verschwiegen wird, wo etwas aufgedeckt werden muss, wo wir etwas investieren müssen.“
SPRECHERIN:
Eine Textpassage, an der solch eine Leerstelle klafft, ist die, als Humbert Humbert behauptet:
ZITATOR:
„Es war sie, die mich verführte“.
SPRECHERIN:
Eine Lüge? Oder Einbildung? Eine verquere Wahrnehmung? Oder doch vorstellbar? Wie kann der Täter meinen, dass Lolita ihn verführt habe? Er beschreibt ihre Initiative, ihren Flirt, dass sie ihn von sich aus geküsst habe. Lea Ruckpaul versuchte beim Schreiben ihres Romans dieses Handeln Lolitas zu erklären.
O-TON 15 Lea Ruckpaul:
„Wie zur Hölle motiviere ich eine Szene, in der ein zwölfjähriges Kind einen erwachsenen Mann küsst? Was für ein Druck muss auf dieses Mädchen ausgeübt werden, wie muss die aufgewachsen sein und sie hat einfach niemanden, sie ist unendlich einsam und es wurde ihr beigebracht, was man tun muss, um Aufmerksamkeit zu bekommen, und zwar von ihrer Mutter, und das ist alles sexistisch, was ihr beigebracht wurde, und das hat ihre Mutter nicht mit Absicht gemacht, sondern sie ist eben auch einfach Teil dieser Welt.“
SPRECHERIN:
Zum Zeitpunkt ihres Missbrauchs ist Lolitas Mutter außerdem bereits tot. Lolita ist also auch ein vernachlässigtes Kind in seelischer Not, auf der Suche nach Liebe. Die Autorin Vanessa Springora schreibt fast 30 Jahre nach ihrer eigenen Missbrauchserfahrung:
ZITATORIN
„Der Mangel an Liebe ist wie ein Durst, der alles aufsaugt (…) voll Erleichterung, Dankbarkeit und Glück.“
Musik: Guilt C 0‘21
SPRECHERIN:
Ihr Bestseller ist eine Abrechnung, eine Reflexion, aber vor allem Ausdruck einer Selbstermächtigung. Sie, die wie Lolita einem viel älteren Täter ausgeliefert war, der über sie geschrieben hat, wie Humbert Humbert über Lolita, holt sich mit ihrem Buch die Deutungshoheit zurück. Genauso tut das Lolita in Ruckpauls Roman „Bye Bye Lolita“. Zunächst einmal nennt Ruckpaul sie Dolores Haze, was der eigentliche Name Lolitas ist. Diese arbeitet sich durch selbsttherapeutische Maßnahmen und durch das Schreiben aus der Opferrolle heraus und gewinnt ihre Autonomie zurück.
O-TON 16 Lea Ruckpaul:
„Sie versucht rauszukommen aus: Ich erzähle über meine Vergangenheit und das erste, was ich erzähle, ist, über diesen Mann, der mir Gewalt angetan hat. Was ich sagen will: wie sehr identifiziert sie sich mit ihrem Opfersein? Ja sie ist es, sie hat es ertragen, sie hat es überlebt. Aber sie sagt: Ich möchte eine Geschichte haben, die außerhalb ist von dieser schrecklichen Vergangenheit, die ich gehabt habe.“
SPRECHERIN:
Der dritte und vierte Teil von „Bye Bye Lolita“, in dem Dolores Haze ihr Leben ohne Humbert Humbert schildert, ist bei Ruckpaul länger als der Teil ihres Martyriums. Dolores erzählt darin von Bekanntschaften, Freundschaften, reflektiert ihre Glaubenssätze, wird erwachsen. Und vor allem lässt Ruckpaul ihre Dolores nicht sterben. Der Spiegel zählte Nabokovs Lolita im März 2025 zu den 100 besten Büchern der Weltliteratur des vergangenen Jahrhunderts. Das Buch ist im deutschen Buchhandel wie in Bibliotheken erhältlich. Bis heute aber scheiden sich an diesem Roman die Geister. Vergangenes Jahr schrieb Susanne Strätling Nabokovs Lolita an der Freien Universität Berlin auf den Lehrplan. Das Seminar war zu ihrer Überraschung ziemlich gut besucht.
O-TON 17 SUSANNE STRÄTLING:
Es hat dieses Seminar – und das fand ich auffällig – letztlich niemand verlassen. Es haben selbst diejenigen, die dem Roman vorgeworfen haben, dass er keine angemessene Darstellung für die literarische Bearbeitung des Missbrauchsthemas findet, dennoch sich darauf eingelassen, diesen Text als ein literarisches Artefakt und als Dokument zu diskutieren.
offensichtlich sollte Nabokovs Lolita, gerade weil er ein so problematischer Text ist, weiter debattiert werden.“