Interviewer: Guten Tag Frau Kühn. Vielen Dank, dass Sie heute mit mir über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sprechen möchten.
Interviewer: Wann wurden Sie geboren und wie alt waren Sie zum Ende des Zweiten Weltkrieges?
Frau Kühn: Ich wurde am 11. April 1945 geboren und der Zweite Weltkrieg endete am 8. Mai 1945. Ich war also noch sehr klein und habe die ersten Jahre nach dem Krieg noch nicht so bewusst miterlebt.
Interviewer: Wo haben Sie nach dem Krieg gelebt?
Frau Kühn: Ich wohnte auf dem Land in Listerfehrda. Das ist ein kleines Dorf an der Elbe im heutigen Sachsen Anhalt zwischen Lutherstadt Wittenberg und Torgau. Auf der Torgauer Brücke haben sich Ende April die russischen und die amerikanischen Soldaten getroffen und sich die Hände gegeben. Listerfehrda lag dann auch in der russischen Besatzungszone.
Interviewer: Sie waren nach Kriegsende noch sehr klein, was war Ihre erste Erinnerung an die Zeit nach dem Krieg.
Frau Kühn: Meine erste und sehr prägende Erinnung an diese Zeit war die Rückkehr meines Vaters aus russischer Kriegsgefangenschaft. Im Oktober 1949 bin ich mit meiner Mutter nach Elster einem Nachbarort von Listerfehrda gelaufen, um meinen Vater vom Bahnhof abzuholen.
Interviewer: Warum war dieses Ereignis so prägend für Sie?
Frau Kühn: Er war für mich fremd. Er sah abgemergelt und alt aus und war sehr krank. Er hatte eine Art Blutarmut, eine Form von Anemie und war sehr schwach.
Interviewer: Hatte ihr Vater sie vor seiner Rückkehr schon einmal gesehen?
Frau Kühn: Nein, ich glaube nicht. Nur wenn meine Mutter ihm Fotos von mir geschickt hatte? Aber das weiß ich nicht so genau.
Interviewer: Ihre Mutter war bis zur Rückkehr ihres Vaters also zwischen 1945 und 1949 allein. Wie konnte sie die Familie ernähren?
Frau Kühn: Meine Mutter und ich haben im Haus meines Vaters gewohnt. Das wurde im Krieg nicht zerstört. Ich denke sie hat Obst und Gemüse im Garten angebaut. Wir hatten auch Tiere und ich denke Verwandte haben uns viel geholfen.
Interviewer: Wie war das für Sie als sie auf einmal einen fremden Vater hatten?
Frau Kühn: Weil er krank war, musste es immer still im Haus sein. Er hat zwar versucht, mir bei den Schularbeiten zu helfen, aber er war kein liebvoller Vater mit dem man auch Spaß haben konnte. Er hat versucht, sich nützlich zu machen. Er war Schneider und wollte wieder selbständig als Schneidermeister arbeiten. Das hat er auch einige Jahre gemacht, aber die Familie konnte davon nicht leben. Die Leute hatten alle kein Geld, um Kleidung zu kaufen.
Interviewer: Und wie haben Sie dann überlebt. Woher haben sie Essen bekommen?
Frau Kühn: Wir hatten einen großen Garten, dort haben wir Obst und Gemüse angebaut. Wir hatten auch kleine Felder, auf denen wir Kartoffeln und Getreide für uns anbauen konnten. Auf den Wiesen haben wir Gras und Heu für die Tiere geholt. Wir hatten Hühner, Enten, Kaninchen, ein oder zwei Ziegen, ein Schaf und auch Bienen. Das reichte, um die Familie selbst zu versorgen.
So lange es Essen auf Lebensmittelkarten gab, haben wir auch ein bisschen Essen extra bekommen. Es wurde erst schwerer für uns, als es keine Lebensmittelkarten mehr gab und die Preise für Essen in der DDR in den 50er Jahren immer höher wurden. 1956 konnte mein Vater die Familie von seiner Arbeit als Schneider nicht mehr ernähren. Er fing an in verschiedenen Fabriken zu arbeiten, aber die Arbeiten dort waren körperlich zu anstrengend für ihn. Dann hat er wieder als Schneider in einer Schneiderei in Wittenberg gearbeitet. Dort war er aber angestellt und hat nicht mehr selbständig gearbeitet. Er hat Uniformen für russische Offiziere genähnt.
Interviewer: Was hat ihre Mutter in der Zeit nach dem Krieg gemacht?
Frau Kühn: Sie war die meiste Zeit Hausfrau und Mutter. Zwischen 1950 und 1956 sind noch vier Geschwister geboren und Kinderbetreuung gab es zu dieser Zeit noch nicht.
Interviewer: Hat ihr Vater von seiner Zeit als Soldat oder seiner Zeit als Kriegsgefangener erzählt?
Frau Kühn: Er hat nicht viel erzählt. Er hat im Ural in einem Steinkohlenbergwerk unter Tage gearbeitet. Die Ernährung und die Unterkunft sollen sehr schlecht gewesen sein, aber die Leute aus dieser Region sollen auch nicht sehr viel gehabt haben. Sie haben immer versucht, aus einfachen Dingen etwas zu organisieren, zum Beispiel haben sie Spinat aus Brennnesseln gemacht.
Mein Vater traf sich manchmal mit einem Mann, der mit ihm in Krieggefangenschaft war. Sie haben meistens über die gleichen Probleme gesprochen, also Eheprobleme oder Probleme mit der Arbeit. Es war sehr schwer für viele Männer wieder eine liebvolle Beziehung zu ihren Frauen aufzubauen.
Interviewer: Hatten Sie eine Schulausbildung?
Frau Kühn: Zwischen 1951 und 1953 ging ich in die Schule in meinem Dorf, in Listerfehrda. Die Schule war nur ein großer Raum. Es gab eine Lehrerin. Sie unterrichtete alle Schüler von der ersten bis zur achten Klasse in diesem Raum.
Interviewer: Wie hat die Lehrerin das geschafft?
Frau Kühn: Es gab nicht wirklich Unterricht wie man ihn heute kennt. Die Lehrerin musste auch als Sekretärin für den Bürgermeister arbeiten. Also hat sie uns am Morgen Aufgaben an die Tafel geschrieben, die wir erledigen sollten. Die großen Schüler sollten sich um die Kleinen kümmern, aber so ist das nie passiert. Wenn die Lehrerin weg war, sind wir bei schönem Wetter alle aus der Schule gelaufen und haben im Freien gespielt. Dann haben sich aber ein paar Eltern von älteren Schülern beschwert und die Schule wurde 1954 aufgelöst. Ich bin dann im Nachbarort zur Schule gegangen und konnte in der 3. Klasse immer noch nicht lesen und schreiben.
Ich habe aber den Abschluss der 10. Klasse geschafft und bin später selbst Grundschullehrerin geworden. Mein Klassenlehrer aus der 3. Klasse konnte das gar nicht glauben. Ich habe drei Jahre studiert und 1964 habe ich in Annaburg als Grundschullehrerin angefangen.
Interviewer: Frau Kühn, vielen Dank für Ihre Zeit und das informative Interview.
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